Alles eine Frage des Kostüms? Karneval im Rheinland
Ich gebe zu, ich kann auch nach fast 30 Jahren in Bonn dem Karneval immer noch nicht allzu viel abgewinnen. Meine DNA funktioniert anscheinend anders. Ich komme aus Mittelfranken. Ja, wir feiern Fasching, wir verkleiden uns auch und haben Spaß, aber ganz so exzessiv ausgelebt wird es dort nicht. Deswegen tue ich mich wahrscheinlich auch schwer mit Karnevalssitzungen etc. Trotzdem kann ich es verstehen, wenn Menschen, gerade die, die hier aufgewachsen sind, es lieben, Karneval so zu feiern, wie er eben im Rheinland gefeiert wird.
Daher hat es mich erstaunt, als ich in der örtlichen Zeitung las, dass von Lehrer:innenseite eine Anfrage an das Schulministerium gestellt wurde, mit der Bitte um einen Leitfaden, anhand derer man sich zwecks Kostümen in der Schule orientieren wollte. Mit solchen und ähnlichen Fragen hätten sich verunsicherte Kolleg:innen und Eltern an die Lehrerschaft gewandt. Es ginge um politische Korrektheit und dem Vorwurf der kulturellen Aneignung, wenn ein:e Schüler:in sich z.B. als Indianer:in verkleiden wolle.
Welches Kostüm ist angemessen?
Was bedeutet politische Korrektheit und kulturelle Aneignung in diesem Zusammenhang? Und was ist moralisch denn überhaupt noch erlaubt? Oder geht es um etwas ganz anderes? Um Moral und Werte vielleicht?
Meine Absicht mit diesem Artikel, der im Übrigen mein Verständnis und meine Auffassung widerspiegelt, ist es nicht, irgendjemanden anzugreifen, sondern ein Stück mehr Verständnis und Licht ins Dunkle zu bringen. Denn selbstverständlich ist es wichtig, sich mit dem Thema “Kulturelle Aneignung” auseinanderzusetzen, gerade, wenn es um versteckten Rassismus geht. Ob dafür eine Anfrage nach einem Leitfaden allerdings der richtige Weg ist?
Was ist kulturelle Aneignung?
Ein Blick in Literatur und Diskussionen zeigt, der Begriff der kulturellen Aneignung ist nicht neu. Bereits in den 70ern und 80ern wurde er verwendet. Aber jetzt hat er wieder neue Brisanz erreicht. Eines vorneweg: er ist nicht so einfach zu erklären. In Wikipedia findest du vier Formen der kulturellen Aneignung:
- “Kultureller Austausch: Der gegenseitige Austausch von Symbolen, Artefakten, Ritualen, Genres und/oder Technologien zwischen Kulturen, die über etwa gleich viel Macht verfügen.
- Kulturelle Dominanz: Die Angehörigen einer unterworfenen („subordinated“) Kultur bedienen sich an Elementen der dominanten Kultur im Sinne einer Assimilation an oder Integration in die herrschende Kultur, aber auch als Praxis des Widerstands.
- Kulturelle Ausnutzung: Die Aneignung der Elemente einer untergeordneten Kultur durch die dominante Kultur ohne nennenswerte Reziprozität, Erlaubnis und/oder Kompensation.
- Transkulturation: Kulturelle Elemente, die von verschiedenen Kulturen hervorgebracht wurden und die sich nicht mehr klar einer Ursprungskultur zuordnen lassen. Das Konzept der Transkulturation soll den Realitäten einer globalisierten Welt gerecht werden, in der Kulturen auf vielfältige Weise miteinander verknüpft sind und das Konzept der Kultur selbst in Frage gestellt wird”
Um es noch einmal zusammenzufassen: Kulturelle Aneignung als einzelner Begriff kommt in dieser Definition gar nicht vor, sondern wird in die vier Formen unterteilt. Wenn wir in der aktuellen Diskussion von kultureller Aneignung sprechen, dann trifft wohl folgendes Verständnis am ehesten zu: Kulturelle Aneignung ist das Reproduzieren oder die Übernahme von Elementen einer anderen Kultur. Zunächst erscheint mir das als unvermeidbar und fast schon normal, wenn du bedenkst, in welcher globalisierten Welt wir leben. Zum Problem wird es, wenn du bestimmte Elemente adaptierst und übernimmst, ohne deren Geschichte zu kennen. Damit verbunden ist ein eher respektloser Umgang damit. Häufig ist das nach obiger Definition eher die Kulturelle Ausnutzung, wenn eine dominante Kultur Elemente aus einer benachteiligten Kultur, sei es sozial, politisch oder wirtschaftlich, übernimmt und sie aus dem ursprünglichen Kontext reißt. Es herrscht also ein gewisses Machtgefälle.
So, den Begriff hätten wir schon mal geklärt. Was macht es aber so schwer, über kulturelle Aneignung zu diskutieren? Kann man überhaupt Eigentumsansprüche auf eine Kultur erheben? Und wenn ja, in welchen Fällen? Ich denke, beide Seiten liefern Argumente, denen man sich nicht entziehen kann.
Hinzu kommen auch noch weitere Begriffe wie Blackfishing, Blackfacing und Whitewashing, die zwar ähnliche Dynamiken aufweisen, sich aber doch deutlich abgrenzen lassen. Für diesen Artikel würde das allerdings zu weit führen. Gerne kannst du die Begriffe nachlesen.
Wann ist denn etwas kulturelle Aneignung und wann nicht?
Wenn nun Kim Kardashian sogenannte “Cornrows” (zu kleinen Zöpfen geflochtene Haare) trägt, ist das schon kulturelle Aneignung? Sie wird dafür gefeiert, während People of Colours dafür teilweise von ihren Jobs nach Hause geschickt werden. Oder ein Fernsehkoch, der Essen aus anderen Kulturkreisen vermarktet? Was ist mit Dreadlocks, mit Tattoos, mit Yoga und dessen Kommerzialisierung, mit Tunnels, mit dem weißen Gospelchor, der “schwarze Gospelmusik” singt? Mit Elvis Presley, der Rock´n´Roll spielt und singt, was mit Jazz und mit HipHop? Ist das alles kulturelle Aneignung?
Für mich ist es nicht immer nachvollziehbar, warum und wann ein Element als kulturelle Aneignung gesehen wird, ein anderes aber nicht. Vielen “angeeigneten” Dingen wird – beabsichtigt oder nicht – zum Teil eine andere Bedeutung zugemessen, wohl, weil sie losgelöst aus ihrer ursprünglichen Kultur sind. Häufig sind in solchen Debatten zudem viele Emotionen im Spiel. Vorwürfen wie “Das kannst du als privilegierte Weiße gar nicht nachvollziehen” kann meist nichts entgegengesetzt werden. Schaust du in den sozialen Medien, dann sind die Kommentare bei so einer Diskussion voll mit Aufschreien, mit Forderungen nach Verboten und Vorschriften. Meiner Meinung nach führt das nicht unbedingt zu mehr Verständnis und Offenheit.
Kulturen sind schon immer dynamisch und wandelbar. Die Menschen als soziale Wesen sind grundsätzlich zunächst mal neugierig und wissbegierig. Sie interessieren sich für Innovationen, sei es bei Schmuck, Kleidung, Frisuren, Tattoos (sowohl aus ästhetischen als auch rituellen Gründen), Werkzeuge, Dinge, die sich als vorteilhaft erweisen. Darin liegt meiner Meinung nach per se keine rassistische Motivation oder die Diskriminierung fremder Kulturen. Würden wir sonst z.B. fremde Länder bereisen und uns mit der dortigen Lebensweise, Sprache, Essen etc. vertraut machen? Unsere Medizin zum Beispiel hätte sich nicht weiterentwickelt, wenn es nicht Menschen gegeben hätte, die das Wissen aus vielen verschiedenen Kulturen zusammengetragen hätten.
Ich will noch einen Schritt weitergehen und eine weitere Frage in den Raum werfen: Wenn wir eine Kultur als statisch und klar trennbar ansehen von anderen Kulturen, begeben wir uns dann nicht viel eher in die Gefahr einer rechten Ideologie? Kulturen dürfen nebeneinander bestehen, sich aber nicht vermischen?
Ich sage damit nicht, dass es kulturelle Aneignung nicht gibt, im Gegenteil, eine Vermischung gab und gibt es ohne Frage. Der Aspekt, der dahinter steht, ist vielmehr: wenn ich einen Teil aus einer Kultur herausnehme, um es selbst zu verwenden, mache ich das, um Anerkennung zu bekommen oder um es zu kommerzialisieren und diskriminiere ich damit gleichzeitig Menschen aus dieser Kultur, aus der es ursprünglich kommt? Verletze ich damit Menschen aus dieser Kultur?
Da müssen wir ansetzen. Nicht jedem eine rassistische, diskriminierende Motivation unterstellen. Vielmehr sollte auf Aufklärung (unter Berücksichtigung des historischen Kontextes) gesetzt werden. Also das Bewusstsein dafür aktivieren, unter welchen Umständen wir in den „Besitz“ kultureller Fragmente gekommen sind. Das beinhaltet zudem eine gewisse Wertschätzung. Das wäre in unserer immer schnelleren, globalisierten und vielfältig werdenden Welt eine der wichtigsten Techniken im Umgang mit anderen Kulturen. Nur mit dieser Wertschätzung ist ein friedliches Zusammenleben und -wachsen möglich. Übermoralisieren und verhärtete Fronten helfen niemanden.
Zudem sollten jungen Menschen (und auch ältere) darüber informiert werden, wie die Kultur, in der sie hineinwachsen, sich zu dem entwickelt hat, was sie jetzt ist. Aufklärung und Prävention können schnellere Früchte tragen als Schuldzuweisungen. Eine pauschalisierte Kritik der kulturellen Aneignung müsste vielmehr einer individuellen Kritik weichen, in der sich jede:r Einzelne:r selbstkritisch und situationsabhängig damit auseinandersetzt.
Fazit
Was hat das jetzt mit Karneval zu tun?
Ich persönlich finde es völlig legitim, wenn jemand ein bestimmtes Kostüm ablehnt und es vielleicht sogar als übergriffig empfindet. Problematisch wird es für mich, wenn der- / diejenige seine Meinung als allgemeinverbindlich ansieht und Verbote und Reglementierungen fordert. Gemeinsame, wertschätzende Kommunikation wäre hier angebracht. Daher sollte es auch gar nicht erst zu einem Verbot von bestimmten Kostümen kommen. Meiner Meinung nach geht es im Karneval ja gerade darum, bewusst in eine andere Rolle zu schlüpfen, nicht, um diese herabzuwürdigen, sondern etwas sichtbar zu machen. Wird nicht im Kölner Dreigestirn die Jungfrau durch einen Mann verkörpert? Ist nicht gerade das Spiel mit der anderen Rolle und einer gehörigen Portion an Augenzwinkern das Kennzeichen vom rheinischen Karneval? Ich habe den rheinländischen Karneval immer als integrierend erlebt. Egal, woher jemand kommt, wenn der-/ diejenige mitfeiern möchte, egal in welchem Kostüm oder ohne – das funktioniert einwandfrei. Wir sollten mal einen Schritt zurücktreten, um etwas Distanz zur Debatte zu gewinnen. Dann werden wir sicherlich erkennen, dass die Übermoralisierung hier völlig fehl am Platz ist. Schließlich kann gerade in einem Umfeld, wie Schule, eine solche Diskussion pädagogisch und frei von intoleranten Argumenten geführt werden. Das verhindert, dass wir unserem Gegenüber dogmatische und unverrückbare Argumente entgegenschleudern, der sich wiederum einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt fühlt. Können wir uns nicht in diesem Rahmen wertschätzend – und natürlich auch umfassend – mit einer anderen Kultur auseinandersetzen und diese anerkennen? So kann doch jede:r selbst entscheiden, ob er / sie nun als Indianer:in verkleidet gehen möchte, oder vielleicht doch lieber etwas anderes wählt? Alternativen gäbe es ja zur Genüge. Verbote helfen uns da auch nicht weiter und die Auseinandersetzung mit dem Thema sollte bereits weit vorher stattfinden. Für mich ist das auch eine grundsätzliche Frage der eigenen Haltung und Werte, sowie ein bewusster, reflektierter, respektvoller und sensibler Umgang mit anderen Kulturen. Diskriminierungen jeglicher Art sind ohnehin völlig fehl am Platze.
In diesem Sinne: Lasst uns in dieser Zeit gemeinsam einen vielfältigen und wertschätzenden Karneval feiern und genießen. Kölle Alaaf!
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Dieser Artikel ist im Rahmen der Blogdekade im Februar 2023 entstanden. Ziel ist es, in 10 Tagen 10 Blogartikel zu schreiben. Dies ist Artikel 7.
4 Kommentare
Birgit Ising
Liebe Anette, wow. Danke für diesen umfassenden, wertschätzenden Artikel. Endlich mal eine erweiterte Sicht auf das Thema. Der Artikel rockt! Ich sage YIIIHAAH und schwinge mein Friedensbeil! Großartig. Herzliche Grüße, auch aus Bonn, Birgit
Anette
Liebe Birgit, Danke für deinen Kommentar. Und noch schöne Karnevalstage, falls du feiern solltest!
Grüße Anette
Ulla
Liebe Anette, ein schöner Artikel, der das Thema wertschätzend aufgreift . Danke dafür. Ich war auch irritiert, als die Anfrage in dem Zeitungsbericht geschildert wurde. Schade, dass Eltern, Lehrkräfte und Schülerschaft unter so einem Druck stehen, denn -das sehe ich auch wie Du- eigentlich ist Karneval integrierend. Toll von Dir geschrieben. Liebe Grüße Ulla
Anette
Vielen Dank für dein Feedback, liebe Ulla.