Persönliches

Gendern oder nicht gendern? Das ist hier die Frage

Nicole Isermann hat mit ihrer Blogparade “Brauchen wir (noch) mehr Gendergerechtigkeit?” dazu aufgerufen, sich mit diesem wichtigen Thema auseinanderzusetzen.

Bild: CoppyrightFreePictures auf Pixabay

Als ich ihren Artikel „Sprache prägt. Bildsprache auch. Brauchen wir (noch) mehr Gendergerechtigkeit?“ gelesen habe, hat  das in mir sofort alte Erinnerungen wach gerufen: Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen und ab und zu sind wir mal in die “große Stadt” mit ihren vielen Verkehrsschildern gefahren. Als kleines Kind habe ich mich tatsächlich gefragt, ob ich auf dem Fußgängerweg alleine oder nur mit meiner Mama oder meiner Oma laufen darf und wo ich denn mit meinem Papa oder Opa gehen dürfe. Seitdem hat sich an den Verkehrszeichen nichts geändert. Mittlerweile weiß ich natürlich, dass mit dem Schild nicht nur Frauen gemeint sind, aber warum ist es nicht möglich, diesbezügliche Veränderungen auf den Weg zu bringen?

Kleine Anekdoten aus meinem Leben

Natürlich waren es nicht nur die Verkehrsschilder, die mich mit dem Thema konfrontierten. Es waren vielmehr diese vielen kleinen Anekdoten, die mich und meine Auffassung von Chancengleichheit und Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern geprägt haben.

Erlebnisse von Ungerechtigkeiten

Als ich zum Beispiel in der vierten Klasse war – mein Bruder war da schon auf dem Gymnasium – hatte ich für mich beschlossen, ebenfalls diese Schulform zu besuchen. In der Familie meines Vaters war das überhaupt nicht gerne gesehen. Begründung: ich sei doch ein Mädchen, ich würde sowieso heiraten, würde Kinder bekommen, warum dann eine langwierige Schulbildung? Und vielleicht danach sogar noch ein unnützes und langes Studium? Ich fragte mich: War ich weniger wert als mein Bruder? Gott sei Dank waren meine Eltern aufgeschlossen und haben erkannt, wie wichtig Bildung ist. Für uns beide im Übrigen.  Nicht zuletzt hatte bei meinen Eltern meine Mutter den höheren Schulabschluss. Ein Novum für die damalige Zeit, für mich aber nicht der Rede wert, sondern eher “normal”. Trotzdem verdiente sie nicht mehr. Lohnte sich höhere Bildung überhaupt?

Ich stamme aus einer Generation, in der Gleichberechtigung nicht selbstverständlich war bzw. ist. Vieles musste erkämpft werden. Obwohl, Wahlrecht für Frauen gab es da ja schon! Und starke Frauen waren in meiner Familie mütterlicherseits vertreten: Meine Oma, die als Vertriebene anfänglich alleine mit zwei kleinen Kindern eine neue Heimat in einem Ort aufbauen musste, in dem sie nicht gerne gesehen war. Meine Mutter, die sich entgegen der vorherrschenden Konventionen für einen Mann entschied, der nicht ihrer katholischen Religion angehörte und die beide in vielen Bereichen kein Blatt vor den Mund nahmen, wenn es um ihre Familie ging. Schon als Kind habe ich dadurch ein gewisses Gespür für Ungerechtigkeiten mitbekommen.  

Sprachliche Fragwürdigkeiten

Im Laufe meines Lebens sind mir immer wieder Formulierungen und Verhaltensweisen über den Weg gelaufen, die mein Bild und meine Einstellung weiter geprägt haben:

Bild: Brittani Burns on Unsplash
  • In meinem ersten Antrag für den Personalausweis zum Beispiel wurde ich als Fräulein geführt. Und ja, in unserem Dorf trugen auch ältere unverheiratete Frauen immer noch stolz die Anrede Fräulein mit sich herum. Das wollte nicht in meinen Kopf: Warum sollte eine ältere Dame sich Fräulein nennen? Und warum gab es eine solche Bezeichnung nicht analog für Männer?
  • Als ich vor gut 30 Jahren geheiratet habe, hat es mich sehr beschäftigt, welchen Namen ich nach der Hochzeit tragen würde: Es gab die Wahl zwischen Doppelname oder Name des Mannes. Ich gestehe, ich wollte nicht Zeit meines Lebens mit einem Doppelnamen unterschreiben und außerdem wollte ich einen gemeinsamen Namen haben. Aber dass nicht einmal die Möglichkeit bestand, meinen Namen als gemeinsamen zu wählen, das wurmte mich doch sehr. Welch eine Ungerechtigkeit! Und es beschlich mich das Gefühl, als ob ich verschwinden würde…
  • Später, in meinem Studium der Sozialarbeit / Sozialpädagogik, war die Frauenquote extrem hoch. Eine Handvoll Männer studierte mit mir. Das waren aber die Männer, die ohnehin alternativ lebten und / oder emanzipiert genug waren, um zum Beispiel ihre Kinder mit ins Studium zu bringen. Als wir uns in Schwerpunkten aufteilen mussten, war ich mit acht weiteren Mitstudierenden im Schwerpunkt Resozialisierung, die Hälfte davon waren Männer! Ich hatte mir wohl einen vermeintlich ”männlichen”  Schwerpunkt ausgesucht. Das bemerkte ich auch in meinen verschiedenen Praktika. Eines davon war im Jugendgefängnis. Gemeinsam mit einer Mitstudierenden wurden wir beim ersten Mal mit den Worten  empfangen: ” Na, habt ihr keinen Freund zu Hause oder warum kommt ihr hierher? Habt ihr nichts besseres zu tun?” Welch eine Anmaßung! Und wir beide, sonst nicht auf den Mund gefallen, waren dermaßen irritiert, dass wir nichts Vernünftiges antworten konnten.
  • Und dann gab es im Studium auch die andere Seite: Frauen, die in feministischen Gruppen organisiert waren und ihre Überzeugungen ungefragt an allen Ecken und Enden von sich gaben. Mir wurde das manchmal echt zu viel, und ich konnte die eine oder andere  Ansicht nicht mehr hören. Obwohl ich es wichtig fand, sich mit genau diesen Themen auseinanderzusetzen. Aber die Art und Weise ging mir gehörig gegen den Strich und war in meinen Augen nicht unbedingt förderlich.
  • Ich kann mich auch noch genau daran erinnern, dass ich in meiner Diplomarbeit folgenden Satz am Anfang schrieb : ” In der vorliegenden Arbeit wird für eine bessere Lesbarkeit die männliche Form verwendet”. Ob ich das heute noch einmal so schreiben würde? Ich denke nicht.
  • Später absolvierte  ich mein Zweitstudium, Jura. Die Studentenschaft war komplett anders als zuvor. Frauen waren in der Minderheit, Männer dominierten das Studium. Und hier habe ich gelernt: Sprache ist wichtig. Denn nur das, was genau im Gesetz steht,  gilt. Und zwar buchstabengenau. Das hat mich gelehrt, in meiner Kommunikation deutlich und präzise zu sein.

Gendergerechte Sprache – Ja oder Nein?

Ich kann darauf keine eindeutige Antwort geben, denn auch ich muss mich immer wieder hinterfragen bzw. lerne aus neuen Entwicklungen.

Wie gendere ich?

Mir ist es wichtig, dass sich in meinen Texten beide Geschlechter angesprochen fühlen.  Deswegen habe ich anfangs nach dem Schrägstrich (Lehrer / -innen) immer ein großes “I” verwendet, also z.B. LehrerInnen.  Da ich politisch korrekt schreiben wollte, ging ich später zum sogenannten “Genderstern” über. Seit Anfang diesen Jahres verwende ich allerdings den Doppelpunkt, da er neben der gegenderten Sprache Texte für sehbehinderte Menschen besser unterstützt. Also “Lehrer:innen”. Außerdem liest sich meine Ansicht ein solcher Text flüssiger. 

Sprachliche “Unausgegorenheiten”:

Folgende Gegebenheiten sind mir – leider – immer wieder begegnet:

  • In meiner Arbeit als Schulsozialarbeiterin war und ist es mir immer wichtig, sprachlich die korrekte Form zu verwenden. Ein Grund dafür ist unter anderem, die Schüler:innen für die Thematik zu sensibilisieren. Einmal fiel mir ein Lehrer ins Wort und meinte, ich solle nicht ständig gendern, da die Schüler (nicht die Schülerinnen!)  das ohnehin nicht verstehen würden.  Ein Grund, so meinte er,  sei in ihrem entsprechenden kulturellen Hintergrund  zu finden. Ihre Eltern würden dafür auch nicht offen sein. Und verändern würde ein gendern sowieso nichts. Über die anschließende heftige Diskussion lege ich mal den Mantel des Schweigens. Bei ihm hat sich nichts verändert, die Mädchen jedoch fühlten sich unterstützt und gestärkt in ihrem Selbstverständnis. 
  • Als Trainerin für Selbstbehauptungskurse für Mädchen hatte ich eine Zeitlang einen Co-Trainer, der grundsätzlich die männliche Form in der Ansprache der Mädchen verwendete, obwohl der Kurs doch eindeutig weiblich war. Den Mädchen selbst fiel das nicht auf, was mich stutzig machte, stammten sie doch überwiegend aus einer privilegierten Schicht. Machte ich da ein Fass auf? Sah nur ich ein Problem darin?
  • Das Tochterkind ist 23 Jahre alt und schreibt aktuell an ihrer Bachelorarbeit. Sie will darin ausschließlich die weibliche Form verwenden. Allerdings nehmen an ihrer Studie, über die sie schreibt, auch ausschließlich Frauen teil. Ob sie das auch so handhaben würde, wenn sie gemischt geschlechtliche Teilnehmer:innen hätte? Sie meinte, eher nicht.
  • Überhaupt, in ihrer Generation sehe ich zwei Tendenzen: die eine, die das, was Frauen sich früher erkämpfen mussten, als selbstverständlich hinnehmen und gar nicht mehr darüber nachdenken. Wahlrecht für Frauen? Elternzeit für Männer? Männer in sozialen Berufen? Alles eher selbstverständlich und das ist auch gut so. Trotzdem findet ein Teil gendern in der Sprache absolut unsinnig. Es mache Texte schwer lesbar. Aber worauf lenke ich dann die Aufmerksamkeit? Auf einen gut zu lesenden Text? Oder benenne ich mit gendern in der Sprache auch eine bestimmte Problematik? Lege quasi den Finger in die Wunde?

Haben wir sonst keine Probleme?

Wenn wir ausschließlich das generische Maskulinum verwenden,wie es zum (überwiegenden) Teil immer noch üblich ist, dann fühle ich mich persönlich teilweise überhaupt nicht angesprochen bzw. fühle meine Interessen nicht vertreten. Gendern wir nicht in der Sprache, dann klammern wir meiner Meinung nach das Bewußtsein für unter anderem folgende Punkte der Geschlechtergleichheit aus:

  • Frauen bekommen nach wie vor häufig weniger Gehalt als das männliche Pendant
  • Frauen sind diejenigen, die sich nach wie vor verstärkt um die Kinderbetreuung kümmern. Gerade jetzt in der Pandemie wurde sichtbar, dass Frauen verstärkt die Krankheitstage für Kinder eingesetzt haben und sich um Homeschooling neben Homeoffice gekümmert haben.
  • für Frauen ist der Zugang zu Führungspositionen immer noch schwerer, wenn die Familienplanung (noch) nicht abgeschlossen ist.
  • Frauen werden bei der Einstellung immer wieder gefragt wie es denn mit der Familienplanung aussehe. Bei Männern kommt das nicht bzw. kaum vor.
  • ….

Es gäbe noch viel mehr zu benennen. Durch unseren alltäglichen gegenderten Sprachgebrauch könnten solche Probleme immer wieder ins Bewußtsein gerückt werden.

Fazit

Bild: The Creative Exchange on Unsplash

Richtiges gendern kann zu einer echten Herausforderung werden, denn es gibt verschiedene Formen dafür. Wichtig ist es, sich in Texten für eine Form zu entscheiden und dann dabei zu bleiben.

Wer gendert, setzt sich aktiv für Gleichberechtigung und Chancengleichheit ein, verleiht den oben angesprochenen Problemen eine Stimme , sensibilisiert, schafft ein Bewußtsein für Mädchen und Frauen, sichtbar zu werden und zu bleiben. Wenn wir sprachlich nicht einmal dafür Platz haben, wie sollen wir auf Missstände, auf Ungerechtigkeiten  aufmerksam machen? 

Daher plädiere ich nach wie vor für eine gendergerechte Sprache. Was die richtige Art und Weise ist, das musst Du selbst entscheiden. Auch ich muss meine Haltung dazu immer wieder überprüfen, finde es aber weder Zeitverschwendung noch Unsinn.

Zum Schluss noch ein Ausschnitt aus “Das Leben des Brians” aus dem Jahre 1979, eine kurze filmische Auseinandersetzung mit dem Thema:

“Loretta” – Das Leben des Brian – YouTube

Wie ist Deine Meinung dazu? Hinterlasse mir gerne einen Kommentar.

3 Kommentare

  • Gabi

    Liebe Anette,

    vielen Dank für deinen klugen Text und deine Erinnerungen an “früher”. Die zeigen, wie sich die Zeiten geändert haben oder eben nicht. Ich habe zwei ältere Brüder und als Kind und Teenager in den 70er/80ern selbstverständlich mehr in der Küche geholfen. Trotzdem sollte ich meinem Papa auch beim Reifenwechseln helfen. Er meinte immer “ein Mädchen von Welt müsse alles können!” Der Anfang von so etwas wie Gleichberechtigung in einer Familie mit ehr traditionellem Rollenmuster? Na ja…. Ich hoffe, dass wir das bei unserem Sohn und unserer Tochter besser hinbekommen haben. Der ältere Bruder hat mit knapp 3 jedenfalls selbstverständlich seine Puppe “gestillt”, wenn ich die Baby-Schwester im Arm hatte. Beide haben Lego und ihren Sandkasten geliebt. Die “rosa Phase” vom Tochterkind war zum Glück nur ein kurzer Irrweg. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass beide mit jetzt 18 und 21 der Meinung sind, Gleichberechtigung wäre doch vorhanden und Gendern überflüssig. Beide kochen jedenfalls gut und gerne und räumen hinterher die Küche auf. Und das Tochterkind fühlt sich beim generischen Maskulinum “mitgemeint”. Einerseits schön und ein Zeichen, dass sich wirklich etwas geändert hat. Aber ich denke trotzdem, dass wir auch unsere Sprache anpassen müssen, damit sich das alles weiterentwickelt – auch wenn es für das Schreiben oft anstrengend ist.
    Viele Grüße von Gabi

    • Anette

      Lieben Dank für Deinen ausführlichen Kommentar. Das mit dem Reifenwechseln oder Keilriemenwechsel (damals ging das noch) kenne ich auch. Ich glaube, dass der nachkommenden Generation sprich unseren Kindern das nicht so auffällt, ist wahrscheinlich ein Zeichen, dass für sie vieles selbstverständlicher ist, als es für uns war. Aber es ist meiner Meinung nach noch Luft nach oben.

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