Es. Ist. Nicht. Alles. Gut.
Update am 18.10.2022
Erst gestern war ich spazieren und wollte an einem Pärchen vorbei, das offensichtlich Influencer Fotos machte. Ich blieb stehen in der Hoffnung, ich könne schnell vorbei, wenn das Bild im Kasten ist. Beide winkten mich vorbei und meinten: “Alles gut”, und zwar zweimal. Unabhängig davon, dass ich nicht schwerhörig oder tatterig bin, nervt mich schon seit langem dieses inflationäre “Alles gut”. Da ist es mir egal, ob ich das als Antwort auf meine ernst gemeinten Fragen nach der Situation, nach dem Wohlbefinden etc. bekomme, oder aber wenn mich selbst jemand fragt, ob alles gut sei. Welche Antwort wird denn da überhaupt erwartet?
Warum ich dabei schon fast kotzen könnte, wenn ich das höre und ob ich vielleicht nur zu empfindlich bin, das kannst Du hier lesen.
“Alles gut?” als Frage
Wenn mich jemand fragt: “Alles gut?” ertappe ich mich dabei, dass ich innerlich schon losschreien: “Nein, es ist nicht alles gut! Was willst Du wissen? Ob es mir gesundheitlich gut geht? Finanziell? Meine Lebensumstände passen? Ich noch mit meinem Mann zusammen bin? Mir die Coronasituation auf den Keks geht? Oder aktuell die politische Situation und der Krieg in Europa? Was meinst Du mit “alles”?” Oder soll ich das alles weglächeln und mein Gegenüber beruhigen, indem ich versichere, dass eben alles gut ist?
Wenn mir eine solche Frage in einer misslichen Situation gestellt wird, also wenn mir zum Beispiel der Geldbeutel mit jeder Menge Münzen an der Kasse auf den Boden fällt und ich hektisch werde, dann kann ich das noch einigermaßen nachvollziehen.
Aber ansonsten wird doch in der Regel die Antwort: “Ja, alles ist gut.” erwartet. Ich spüre dann kein echtes Interesse an meiner Situation und ziehe mich schnell zurück. Warum?
Nun, zum einen fühle ich mich ein wenig in die Kindheit zurückversetzt. “Alles gut?” ist für mich eine typische Frage an ein Kind oder aber auch eine typische tröstende Antwort für ein Kind. Und da möchte alles in mir aufschreien: “Behandle mich nicht wie ein Kind. Nimm mich ernst!”
Vielleicht ist es aber auch so, dass schlicht und ergreifend Konversation in unserer Gesellschaft erwartet wird. Auf die Frage “Alles gut?” wird häufig keine echte Antwort erwartet. “Man” macht halt Smalltalk. Wenn dann doch eine nicht erwartete Antwort kommt, dann könnte sie vielleicht das Wohlbefinden bzw. die heile Welt des Gegenübers bedrohen. Vielleicht muss sich diese:r mit meinen Problemen befassen oder sie zumindest anhören und will das gar nicht?
Und seien wir mal ehrlich: Wie oft hast Du diese Frage schon gestellt oder als Antwort gegeben? Einfach, um Ruhe zu haben? Ohne, dass Du eine echte Antwort erwartest? Du noch nie? Dann herzlichen Glückwunsch. Das zeugt von echtem Interesse an den Mitmenschen. Aber das ist nicht die Norm.
Mit dieser Frage wird häufig keine echte Antwort erwartet. Mit so einer Floskel wischst Du quasi alles beiseite, was Anlass für ein Gespräch sein könnte. Du baust eine Barriere auf und schaffst Distanz.
Ich persönlich finde das ganz furchtbar. Es hat für mich echten “Kotzfaktor”! Jawohl!
“Alles gut” als Antwort
Mich macht diese “Alles-gut-Epidemie” echt wütend. Sei es die Kellnerin, die abkassieren möchte und ich aber noch länger brauche, um meinen Geldbeutel herauszukramen, mir sagt: “Alles gut”, aber vielleicht etwas ganz anderes meint. Oder aber mein Gegenüber, das auf meine Frage nach der persönlichen Situation so antwortet. Wie soll ich das verstehen? Ist das so etwas wie “Lass mich in Ruhe”, “Ich will nicht (mit Dir) darüber reden” “Ich habe gerade kein Interesse, keinen Bock, Dir meine Situation zu erklären”. Manchmal bin ich in der Stimmung für Provokation und frage nach: “Was meinst Du damit?” “Was genau ist denn alles gut?”. Meist ernte ich erst mal Erstaunen über mein Nachfragen, manchmal bekomme ich dann doch noch eine “richtige” Antwort. Juchhu!
Ein Aspekt ist mir aber noch wichtig: wir leben in einer Welt, in der es für jedes Problem ein Tool, einen Coach, einen Therapeuten gibt. Wenn bei uns eben nicht alles gut ist und wir das auch noch sagen, gestehen wir uns dann nicht ein, dass wir selbst an unserer Situation schuld sind?
Oder wollen wir etwa allen gefallen, denen wir diese Antwort geben? Wenn alles gut ist, dann muss sich keiner Sorgen machen. Und es sieht so aus, als ob es bei uns keine Probleme gäbe. Da fragt dann auch keine:r mehr nach. “Alles gut” ist eine absolute “Totschlagantwort”.
Was könnte passieren, wenn wir sagen, was wir meinen?
Warum also sagen wir nicht einfach, was wir meinen? Ist es so eine Bedrohung, wenn ich ehrlich antworte? Was könnte denn passieren?
- Ich werde sichtbar mit meinen Ängsten und Fehlern. Ich zeige mich verletzbar. Zum Beispiel eine Mama, bei der es zu Hause nicht immer klappt mit den Kindern. Der vielleicht alles über den Kopf wächst: Kinder, Haushalt, Beruf. Die entspricht ja offensichtlich nicht dem, was viele andere zeigen: es läuft gut mit Kind, Familie, Haushalt, Beruf. Bei mir nicht.
- Mein Gegenüber weiß, wie es mir wirklich geht und kann eventuell Rücksicht nehmen oder mir Hilfe anbieten. Wie soll er / sie das wissen, wenn ich lapidar “Alles gut” antworte?
- Ich lasse Gefühle zu
- Mein Gegenüber nimmt mich ernst und behandelt mich nicht mehr wie ein Kind
- Es öffnet Türen – zu mir selbst, aber auch zu anderen
- Es ist einfach ehrlich
- ….
Wenn Du das liest (und die Liste kannst Du sicher noch erweitern), macht das auf Dich den Eindruck, als ob es schlimm, unerträglich oder sogar falsch wäre?
Mein Appell
Ich möchte wissen, wenn es mir nahestehenden Menschen schlecht geht, möchte ehrlich Antworten hören und auch geben können, möchte kein “wegwischen” mit einer solchen Antwort. Ich will ins Gespräch gehen können, wenn ich sehe, dass es Dir schlecht geht, Du aber sagst, es wäre alles gut, möchte verstehen, was dahinter steht. Und ganz ehrlich, jede:r möchte ernst genommen werden, sich so zeigen können, wie man wirklich ist und z.B. nicht die tolle Mami spielen müssen, die alles wuppt. Ich möchte authentisch sein dürfen. Ich möchte mit meinen Mitmenschen verbunden sein. Das ist für mich und auch für Dich gesund. Eine Gesellschaft, in der vermeintlich alles gut ist, nur nicht bei mir, verursacht Stress, stellt Anforderungen, die ich nur schwer erfüllen kann oder will. Das macht mich krank.
Also lasst uns zurückkehren zu Offenheit und Ehrlichkeit in der Antwort. Ich vertraue darauf, dass mein Gegenüber ein “Ich will momentan nicht darüber reden” eher versteht, einordnen und eventuell nachhaken kann als ein “Alles gut”. Das heißt ja nicht, dass Du jedem, der Dich fragt, wie es Dir geht, Deine ganze Seele offenbaren musst. Aber eine einfache ehrliche Antwort: “Mir geht es heute nicht so gut” wäre schön. Wieweit Du Dich dann auf ein weiteres Gespräch einlässt, liegt immer noch an Dir.
In diesem Sinne: Es ist nicht alles gut! Es ist, wie es ist.
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3 Kommentare
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Gabriella
Ich habe deinen Text mit meinen jugendlichen SuS gelesen. Deine Frage
“Was könnte passieren, wenn wir sagen, was wir meinen?” führte zu Diskussionen über Schein und Sein, über Ängste sich als Schwächling zu zeigen, seine Rolle als Leader:in zu verlieren und vielem mehr.
Danke für den tollen Input 🙂
(cool fanden die SuS aber auch, dass eine so alte Person sich traut zu schreiben “dass ich kotzen könnte”)
Anette
Ich als “alte, grauhaarige Frau” nehme das mal als Kompliment. Danke für den Kommentar, liebe Gabriella.