Blogdekade 2023,  Stressmanagement

Grenzenloser Optimismus oder toxische Positivität?

Positives Denken hilft bei allem und jedem. Ist doch eh klar. Oder siehst du das anders? Gibt es einen Punkt, an dem grenzenloser Optimismus ins Toxische übergeht? An dem Positivität wie Gift auf andere Menschen wirkt?

Ist das noch Optimismus?

Es regnet? Egal, ob Du auf ein Open Air wolltest, die Natur braucht das einfach. Hast du halt Pech gehabt. Die Sonne scheint so intensiv? Nicht jammern, wann war denn der letzte so richtig schöne Sommer? Du hast den Job nicht bekommen? Die werden sich noch ärgern, dass sie dich nicht genommen haben. Bei deinen Fähigkeiten! Aber hey, wenigstens scheint die Sonne! Stell Dich doch nicht so an, das wird schon wieder. Anderen geht es noch viel schlechter als Dir.

So oder so ähnliche Aussagen hast du bestimmt schon einmal gehört. Ab wann verletzen sie aber andere Menschen? Ab wann versprühen sie Gift?

Ich selbst habe eine optimistische Grundeinstellung von zu Hause mitbekommen und kann vielen Situationen noch etwas Gutes abgewinnen. Aber ausschließlich positive Äußerungen, wenn es mir gerade dreckig geht oder die Situation gerade beschissen ist? Da kann ich nur schlecht mitgehen. Was ist, wenn ich mich in meinem Leid suhlen möchte? Vielleicht brauche ich das gerade und was soll ich dann mit dem “Du musst dem Ganzen nur etwas Positives abgewinnen, dann geht es schon wieder”.?

Für mich fühlt sich das an, als ob ich nicht ernst genommen werde. Aber wo verläuft die Grenze zwischen gesunder und toxischer Positivität?

Was ist toxische Positivität?

Um es klarzustellen: Es ist nichts Schlimmes, eine optimistische Grundeinstellung zu haben. Das wirkt sich sogar auf unsere Gesundheit aus.

Unser Gehirn ist allerdings darauf ausgelegt, sich auf negative Ereignisse zu fokussieren. Nur so kann es uns Warnungen schicken, wenn etwas Schlimmeres drohen könnte. Dadurch wird unser Handeln beeinflusst, nämlich zumindest so weit, dass wir vorsichtig sind. Es ist also sogar eine überlebenswichtige Strategie. In der Steinzeit absolut wichtig. Und auch heute noch, auch wenn die Steinzeit schon längst vorbei ist. Allerdings schränkt unser Gehirn dadurch unseren Blickwinkel ein. Positive Gegebenheiten nimmt es nicht so richtig wahr, weil sie uns ohnehin nicht schaden. Die können ruhig vernachlässigt werden. Damit wir jetzt aber nicht von negativen Gedanken überschwemmt werden, ist es wichtig, unseren Fokus auf Positives zu richten. Aber ab wann wird es toxisch?

Der Versuch einer Definition von toxischer Positivität

In der Regel liegt toxische Positivität dann vor, wenn jemand ausschließlich bzw. überwiegend von positiven Äußerungen / Einstellungen Gebrauch macht, die dazu beitragen, dass negative Gefühle nicht mehr angesprochen werden können oder sogar abgelehnt werden. Es ist kein Platz für schwierige Emotionen. Das führt unweigerlich zu mangelnder Authentizität und im schlimmsten Fall zu psychischen Problemen. Die Beziehung bzw. die Kommunikation ist dann vergiftet und wirkt sich negativ aus.

Wie? Psychische Probleme, wenn doch alles in Ordnung ist? Wo sollen die jetzt auf einmal herkommen? “Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird”, so ein Sprichwort. Also ist alles gar nicht so schlimm? Wie würdest du dich fühlen, wenn du z.B. negative Emotionen aufgrund eines Verlustes hast und als Antwort darauf ein “Alles wird gut”, “Hätte schlimmer kommen können” oder – noch schlimmer: “Was dich nicht umbringt, macht dich noch stärker” bekommst? Meist ist das sicherlich gut und tröstend gemeint (unterstelle ich mal). Du fühlst dich aber nicht ernst genommen, denkst, dein Problem wird entwertet. Oder aber du bekommst zu verstehen, dass deine Gefühle falsch und aktuell nicht angebracht sind. Egal ob es sich um Wut, Leid, Trauer, Enttäuschung oder was auch immer handelt. Richtig?

F*ck positive vibes!

Nur weil ein:e andere:r dich mit positiven Ansichten überschüttet, verschwinden deine ursprünglichen Gefühle ja nicht. Was du aber machen wirst (bewusst oder unbewusst): Du wirst deine Gefühle ganz sicher nicht mehr mit der Person (im schlimmsten Falle mit niemandem mehr) teilen, du “frisst” sie in dich hinein. Noch schlimmer: jemand erwidert auf deine Äußerungen noch so etwas wie: “Sieh das doch mal positiv: Jetzt ist wieder Platz für XY”. Noch ein wenig Zuckerguss und Elfenstaub darüber und schon ist alles vergessen. Oder doch nicht? Würdest du dir dann noch Hilfe holen, wenn du aus dieser Erfahrung heraus lernst: “Das nimmt doch eh keine:r ernst, mein Problem ist anscheinend doch gar nicht so schlimm”. Irgendwann wirst du dann platzen. Dann die Scherben wieder zusammenzukehren und zu einem Ganzen zusammenzufügen, ist deutlich schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich. Dazu kommt unter Umständen noch, dass du dich schuldig fühlst. Warum? Weil die negativen Emotionen, die dich belasten, eigentlich nicht sein dürfen oder müssen. Du musst halt nur genügend positiv denken, dann wird das schon. Und wenn du das nicht schaffst, dann stimmt wahrscheinlich mit dir etwas nicht. Deswegen sprechen wir auch von toxischer Positivität. Demzufolge gibt es keine negativen Emotionen, sie haben einfach keine Daseinsberechtigung. Damit hast du letztendlich auch keine Rechtfertigung, wenn es dir mal schlecht geht oder du dich absolut mies fühlst.

Ich frage mich, wie das mit einem Menschen ist, der unter Depressionen leidet. Wenn dieser andauernd zu hören bekommt, “Dass alles seinen Grund hätte” oder er /sie es “nur etwas positiv sehen müssten”, wäre diesen Menschen damit geholfen? Verstehe mich bitte nicht falsch: Optimismus ist Teil der kognitiven Psychotherapie und kann unter Anleitung helfen, dass negative Gedanken durch positive ersetzt werden. Unser Gehirn kann nun halt mal nicht beides gleichzeitig denken, es muss sich auf eines konzentrieren. Im Falle einer Depression kann toxische Positivität aber ebenfalls zu Schuldgefühlen und Versagensängsten führen und das Krankheitsbild noch verstärken.

Wie ist es mit Kindern / Jugendlichen, deren Eltern alles mit einer gnadenlosen Positivität sehen? Alles, was das Kind / Jugendliche macht, ist super, toll, absolut schön. Werden sie ein schwerwiegendes Problem mit ihren Eltern besprechen oder suchen sie andere Wege (wie immer die auch aussehen mögen)? Es gibt halt nicht nur Sonnenschein, Regenbögen und Einhornpupser im Leben.

Leider sind negative Gefühle in unserer Gesellschaft nicht so gerne gesehen. Allein ein Blick in die sozialen Medien zeigt eine immer glückliche und sonnendurchflutete Welt mit lachenden Gesichtern. Auch wenn wir wissen, dass viel Inszenierung dahinter steckt, nagt doch der Eindruck “Die bekommen alles hin, warum ich nicht?” an uns. Was machen wir falsch und die richtig?

Bild: Anemone123 auf Pixabay

Was kann ich dagegen tun?

Wie bereits festgestellt, das Leben besteht nicht nur aus positiven Erlebnissen und Begegnungen. Es gibt beides: positive wie auch negative Emotionen. Beide haben ein Existenzrecht. Wie sonst könnte ich Resilienz und Stärke lernen, wenn es mir immer nur gut geht? Schon im Kleinkindalter fangen wir an, aus Widrigkeiten zu lernen und auf eine gesunde Art und Weise mit Gefühlen wie Verlust, Angst, Schmerz, Versagen und noch viel mehr umzugehen. Würden wir das nicht, dann würden wir andere Verhaltensprobleme entwickeln und bei der kleinsten Widrigkeit umkippen.

Was kannst du aber nun konkret tun?

1. Gefühle anerkennen

Dir geht es nicht gut? Ja, dann ist das so. Das hat mit Sicherheit auch bestimmte Gründe. Was du jetzt nicht tun solltest: Die Gefühle unterdrücken und nicht ernst nehmen. Schaue dir das Gefühl, das gerade vorherrscht, ohne Wertung an. Was kommt dabei raus? Wahrscheinlich ein “Ich fühle mich traurig, wütend, ängstlich”. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist genau das Gefühl, das du fühlst und das ist okay so. Nimm es einfach wahr und akzeptiere es, statt es ins Positive umzudeuten. Dieses Gefühl gehört zu deinem Leben.

2. Sorge für dich

Nimm deine Gefühle ernst und frage dich: Was kannst du tun, damit du dich besser fühlst? Wie kannst du am besten für dich sorgen? Das Schwierige dabei: Nur du weißt, was dir gerade guttut, keiner sonst. Das kann eine kleine Meditation sein, ein Bad mit einem Lieblingsduft, ein Gespräch mit einer guten Freundin, Schreiben (zum Beispiel ein Dankbarkeitstagebuch, um dein Gehirn mit positiven Aspekten zu füttern, keine vorgetäuschte Dankbarkeit!), ein Spaziergang….

Sortiere Menschen aus, die dich mit deinen Gefühlen nicht ernst nehmen. Sie tun dir nicht gut.

3. Sei mitfühlend mit dir selbst

Es geht dir nicht gut? Dann lass es zu und setze dich nicht noch selbst unter Druck, weil du ja eigentlich dankbarer, produktiver etc. sein müsstest. Fühle mit dir selbst, verarbeite das Gefühl, egal, was andere sagen. Es ist okay, wenn du zum Beispiel nach einem Verlust nicht so funktionierst, wie andere es von dir gewohnt sind. Auf die Frage “Wie geht es dir?” darfst du auch ehrlich antworten!

4. Überdenke deinen Social Media Konsum

Wem folgst du in den sozialen Medien? Menschen, die ausschließlich gute Laune verbreiten? Bei denen es nichts Negatives gibt? Warum folgst du ihnen? Du weißt sehr gut, dass viele Bilder nur Momentaufnahmen sind, viele sind inszeniert. Wenn du dir die Posts betrachtest, was löst das bei dir aus? Enttäuschung über dein eigenes Leben? Zweifel? Hinterfrage genau, wem du folgst und warum. Eine gute Idee wäre da ein digitales Detox. Dabei verzichtest du bewusst auf Medien und gewinnst Abstand. Danach bewertest du deinen Konsum wahrscheinlich anders.

5. Sei ein gutes Beispiel

Überlege mal: wie reagierst Du darauf, wenn andere eine schwierige Phase durchleben? Konterst du dann mit solchen Phrasen wie: “Das wird schon wieder”, “Nimm’s nicht so schwer”?

Oder fragst du gezielt nach, wie du unterstützen kannst? Wie sich jemand wirklich fühlt? Zwei Worte fallen mir dazu ein: Empathie und Mitgefühl. Also für den anderen Menschen da sein, sich in deren Lage versetzen, damit dein Gegenüber sich ernst genommen fühlt und es ihm / ihr erlaubt, über die Emotionen zu sprechen. “Ich höre zu” wäre ein guter Anfang.

Das heißt auch in Familien mit gutem Beispiel vorangehen, damit Kinder lernen können, was authentische Gefühle sind und wie sie darauf reagieren können. Auch du hast mal einen schlechten Tag und das darfst du zeigen -solange du nicht ständig schwarzmalst. Das wäre das andere Extrem.

Wenn du als gutes Beispiel vorangehst, signalisierst du bereits eine Vorstellung davon, wie andere Menschen mit dir umgehen sollen.

Um was geht es letztendlich?

Nach den ganzen Ausführungen magst du vielleicht etwas irritiert sein. Darf / soll ich nun positiv denken oder nicht? Wie verhalte ich mich anderen gegenüber? Oder einfach nur “Hä?”. Daher hier eine kurze Zusammenfassung:

Am Ende eines Tages geht es darum, die Balance zu finden. Die Balance zwischen Positivität und Anerkennung dessen, was ist. Ich hoffe, du hast mich nicht missverstanden. Ich bin ein Fan von positiver Psychologie und Optimismus. Mir hilft beides durch manches Tal im Leben. Positive Psychologie ist ein ernsthafter Zweig der Psychologie, der auf dein Leben einzahlt, egal wo du deine Baustelle gerade siehst. Sie unterstützt dich dabei, aufzublühen, dein Leben anders genießen und leben zu können (der Fachbegriff dafür ist “Flourishing”), indem sie deine Ressourcen stärkt und dir das richtige Werkzeug dafür liefert, vor allem, wie du mit Krisen gut umgehst und gestärkt aus ihnen hervorgehen kannst.

Daher ein Ja zu Positivismus, positive Psychologie, Authentizität, Ehrlichkeit. Aber ein klares Nein zu toxischer Positivität und der Bewegung #goodvibesonly. Hin zu einer ausgeglichenen Balance. Yin und Yang halt, oder wie immer du es auch bezeichnen magst.

Solltest Du das Thema vertiefen wollen, dann findest du hier den Link zu einer umfangreichen und sehr interessanten Dokumentation von Arte: Glücklichsein um jeden Preis

Aussicht

All diese Erkenntnisse fließen selbstverständlich in meine Arbeit als Expertin für Stressmanagement und Burnoutprävention ein. Wenn du jetzt neugierig geworden bist und dir eine Zusammenarbeit mit mir überlegst, dann kontaktiere mich. In einem kurzen Gespräch können wir beide herausfinden, ob meine Art der Arbeit zu dir passt.

Wenn du mich aber erst mal weiter beobachten möchtest, dann abonniere meinen Newsletter. Hier findest du immer wieder Tipps aus meinem Coaching Bereich.


Dieser Artikel ist im Rahmen der Blogdekade im Februar 2023 entstanden. Ziel ist es, in 10 Tagen 10 Blogartikel zu schreiben. Dies ist der letzte Artikel, nämlich Nummer 10.

3 Kommentare

  • Katharina Koppert

    Liebe Anette,
    Danke dir, dass du diesem wichtigen Thema einen eigenen, ausführlichen Blogartikel gewidment hast. Ich finde, du bringst die Problematik super auf den Punkt!
    Besonders die Aspekte, Gefühle anzuerkennen und Mitgefühl mit sich selbst und anderen zu haben, finde ich einfach wichtig, um der Realität ausreichend Raum zu geben.
    Liebe Grüße
    Katharina

  • Kerstin Salvador

    Liebe Anette,

    ich danke dir für diesen sehr erhellenden Artikel, der in mir gerade wirkt. Ich fühle mich dabei ertappt, dass auch ich auf negative Erlebnisse oder Emotionen von anderen gerne positiv aufmunternd reagiere, weil ich denke, das hilft. Ich habe mir bisher noch keine Gedanken darüber gemacht, dass sich mein Gegenüber dann noch schlechter und nicht ernst genommen fühlt. Das habe ich nun verstanden.

    Dazu fällt mir ein, dass meine Mutter nie emphathisch darauf reagiert hat, wenn es mir nicht gut ging, ich wütend war oder mich ungerecht behandelt gefühlt habe. Sie hatte stets für die andere Seite Verständnis und hat mich nie ernst genommen. Ich habe irgendwann aufgehört, in schwierigen Situationen mit meinem Kummer zu ihr zu gehen.

    Jetzt habe ich verstanden, woher das bei mir kommt. Vielen Dank, dein Artikel wirkt in mir nach! Künftig werde ich anders reagieren, besser zuhören, Verständnis zeigen und mich mit positiven Sprüchen zurückhalten.

    Liebe Grüße
    Kerstin

    • Anette

      Liebe Kerstin, schön, dass der Artikel nachwirkt. Das war meine Intention. Ich kenne das auch von mir selbst, auf eine negative Äußerung noch was Positives draufzusetzen und übe immer wieder. Aber es wird besser! Versprochen!

      Grüße Anette

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert