Prokrastination – und was du dagegen tun kannst
Kennst du das auch? Du hast eine Aufgabe vor dir, aber alles andere ist wichtiger, schöner und natürlich interessanter. Du weißt genau, dass es negative Folgen haben kann, wenn du deine Aufgabe nicht erledigst. Ein Beispiel, das wahrscheinlich fast jede:r kennt: Steuererklärung abgeben. Eigentlich solltest du das bis zu einem bestimmten Stichtag erledigt haben. Aber draußen scheint ausgerechnet jetzt die Sonne, das Haus muss noch geputzt werden, eine Freundin will vorbeikommen, eine Lieblingsserie im Fernsehen läuft, es geht dir gerade nicht so gut, Zahlen sind sowieso nicht dein Ding und, und, und. Schließlich ist der Stichtag da. Du sitzt noch an deiner Steuererklärung und fährst sie extra zum Nachtbriefkasten des Finanzamtes, damit sie doch noch rechtzeitig ankommt. Kennst du? Ich schon.
Nach Schätzungen leidet jeder 5. Deutsche unter der sogenannten Prokrastination bzw. deren Folgen. Wenn ich mein Umfeld anschaue, könnte ich mir vorstellen, dass diese Zahl nicht stimmt, dass es noch vielmehr Menschen gibt, die das Phänomen betrifft. Ein Grund mehr, das Thema etwas genauer anzuschauen, und zwar von verschiedenen Seiten.
Was bedeutet Prokrastination?
Das Wort “procrastinatio” bedeutet soviel wie Aufschub oder Vertagung und setzt sich zusammen aus “pro” = vor oder vorwärts und “Crastinum” = morgiger Tag (siehe auch Wikipedia).
Umgangssprachlich bezeichnen wir es auch als Aufschieberitis. Es ist ein Verhaltensmuster, bei dem du wichtige Aufgaben oder Entscheidungen aufschiebst oder vermeidest, obwohl du weißt, dass dies negative Konsequenzen haben kann -wie eben die zu spät abgegebene Steuererklärung. Das Ausmaß kann sehr unterschiedlich sein. Es kann zu Stress, Ängsten, Frustration, einem Gefühl der Überforderung und weiteren schwerwiegenden Folgen wie beruflichem Misserfolg führen. Gerade bei Personen, die selbstbestimmt arbeiten (müssen), ist Prokrastination häufiger verbreitet.
Symptome der Prokrastination
Die Symptome können vielfältig sein. Das bedeutet aber nicht, wenn du eines der genannten Symptome zeigst, dass unbedingt und ausschließlich Prokrastination dahinter steckt. Mitunter gibt es auch einen anderen Grund. Wichtig ist jedoch, dass du hellhörig wirst, wenn du dich in den am häufigsten genannten Symptomen wieder findest. Diese sind vor allem:
- Unrealistische Ziele
- Ängste
- Konzentrationsschwächen
- Unstrukturierte Planung
- Zeitmanagement funktioniert nicht mehr (oder unzureichend)
- Du hast jede Menge To-do-Listen
- Dir fällt es schwer, Prioritäten zu setzen
- Du lässt dich häufig von anderen Dingen ablenken (vor allem, wenn sie attraktiver erscheinen) und unterbrichst deine Arbeit deswegen häufig
- Deadline? Welche Deadline?
- Du fühlst dich unendlich gestresst, wenn du nur an die zu erledigende Aufgabe denkst
- Du setzt Erfolg mit Selbstwert gleich und brauchst deswegen schnelle Erfolgserlebnisse. Das bedeutet, dass kurzfristige Belohnungen höher bewertet werden als langfristige Erfolge
- …
Mögliche Ursachen von Prokrastination
Unser Gehirn ist ein Energiesparmonster. Das bedeutet, es spart immer dann Energie, wenn es bewährte Wege oder Abkürzungen erkennt. So ist es auch beim Prokrastinieren: Wir versuchen eine (vermeintliche) Abkürzung zu nehmen. Das, was wir eigentlich erledigen sollten, kostet uns vermeintlich zu viel Energie und Überwindung. Da erscheint unserem Gehirn das Aufschieben doch einfacher. Ist es aber nicht. Dieser Effekt wird Depletionseffekt oder Paradoxon der Prokrastination genannt. Wir versuchen es uns einfacher zu machen, reden uns vielleicht noch ein, dass uns nach einer Ablenkung die eigentliche Aufgabe leichter fällt, aber in Wirklichkeit machen wir es uns schwerer. Okay, du sparst im Hier und Jetzt möglicherweise Energie, aber umso schwerer fällt später der Einstieg in die Aufgabe. Außerdem müssen wir eventuell auch noch gegen die Zeit und unser schlechtes Gewissen arbeiten, nur weil wir vorher mit Energiesparen beschäftigt waren.
Die Gründe für Prokrastination sind vielfältiger und komplexer, als man zunächst annehmen würde. Es geht weit über “Null Bock” oder “Erst mal lieber was Angenehmes tun” hinaus. Wenn wir ehrlich sind, dann kann es auch Vorteile haben, etwas aufzuschieben. Manchmal erledigen sich Probleme so von ganz alleine. Das Verhalten wird aber gefährlich, wenn es chronisch auftritt und damit das Leben beeinflusst. Prokrastination kann einer Studie von Manfred Beutel von der Universität Mainz aus dem Jahr 2016 zufolge zu Stress, Ängsten, Depression und Einsamkeit führen. Wenn das bekannt ist, dann stellt sich doch die Frage, warum Menschen Tätigkeiten aufschieben, die offensichtlich zu negativen gesundheitlichen Folgen führen?
Die Studie hat ebenfalls herausgefunden, dass vor allem junge Menschen und Singles von Prokrastination und deren Folgen betroffen sind. Menschen, die wichtige Tätigkeiten immer wieder hinausschoben und stattdessen etwas anderes machten, waren vermehrt arbeitslos, hatten ein geringes Einkommen und litten öfter unter oben genannten Symptomen wie Stress, Depression etc.
Prokrastination ist ein erlerntes Verhalten. Es wird verstärkt, indem wir unangenehme Tätigkeiten vermeiden. Hast du dich schon einmal gefragt, warum eine Tätigkeit für dich so unangenehm ist? In der Regel machst du das nicht, oder? Wer hat nicht schon einmal Bewunderung oder Verständnis dafür erhalten, wenn unser Umfeld bemerkt, dass wir überarbeitet sind. “Wow! Was du alles in der Zeit schaffen musst”. Das ist auch eine gesellschaftliche Ursache.
Wenn jemand eine Leistung von dir fordert, wie zum Beispiel dein Arbeitgeber, könnte das auch mit der Angst, dem nicht gewachsen zu sein und zu versagen, verbunden sein. Oder aber deine eigene Anforderung an das, was du leisten kannst und willst, ist viel zu hoch gesteckt. Deine Zielsetzung ist möglicherweise unrealistisch. Dann liegt es doch nahe, erst mal etwas anderes zu machen, um ein kurzfristiges Ergebnis zu erzielen, anstatt an das geforderte Ziel zu denken. Ich sage da nur “Steuererklärung”.
Aber auch dein Perfektionismus könnte zu Prokrastination führen. Erst das eine so perfekt wie nur möglich erledigen und nötigenfalls noch ein zehntes Mal bearbeiten, bevor eine andere Tätigkeit möglich ist. Kennst du?
Mir ist wichtig, klarzustellen, dass Prokrastination nicht eine bloße schlechte Angewohnheit ist, die man einfach wieder ablegen könnte. Die Ursachen können vielschichtig sein. Möglicherweise ist es dann wichtig, vor allem dann, wenn du merkst, dass es dein Leben beeinträchtigt, professionelle Hilfe zu holen.
Typen der Prokrastination
In der Literatur sind zwei Typen von “Aufschiebern” am häufigsten beschrieben:
- Der “Vermeidungsaufschieber“: Dieser Typ hat Angst zu versagen oder einen Misserfolg zu erleben. Deshalb meidet er jeden Leistungsdruck, den die Aufgabe erzeugt. Um sich zu rechtfertigen, findet er jede Menge Ausreden, warum er / sie gerade diese Aufgabe nicht erledigen kann bzw. erledigt hat.
- Der “Erregungsaufschieber“: Manche brauchen eine Deadline und erledigen die Dinge erst auf den letzten Drücker. Sie sagen, dass sie erst kreativ / aktiv werden können, wenn der Druck am Ende der Deadline sichtbar und spürbar ist.
- Und dann gibt es natürlich noch andere (Misch-) Formen wie den Saubermann / die Sauberfrau, die meinen, dass sie nur dann gut arbeiten können, wenn der Schreibtisch, die Küche etc. aufgeräumt sind und somit erst das machen. Oder den / die Listenmacher:in, die sich für alles und jedes eine To-do-Liste schreiben muss und sich dann verzettelt. Oder der Internetmensch, der / die zuerst mal alle sozialen Medien durchgehen muss, bevor er / sie sich an die Erledigung der E-Mails machen kann. Oder, oder, oder. Du findest dich da wieder?
Wie kannst du Prokrastination überwinden?
Prokrastination ist offensichtlich ein weit verbreitetes Phänomen. Die gute Nachricht ist: Wenn das Verhalten erlernt ist (s.o.), dann kann es auch wieder “verlernt” werden. Nur wenige Menschen benötigen eine Therapie bei ihrer Prokrastination, Unterstützung kann dennoch hilfreich sein. Im Folgenden findest du eine Vorgehensweise, um der Aufschieberitis entgegenzuwirken:
- Wähle eine konkrete Aufgabe, die du am liebsten vermeiden möchtest, aus (Prioritäten setzen). Überlege dabei, was am wichtigsten ist, um dein Ziel zu erreichen.
- Beobachte dich über mehrere Tage: Wann vermeidest du es gerne, an deiner selbst gewählten Aufgabe zu arbeiten? Unter welchen Bedingungen fällt es dir leicht?
- Definiere kleine und ganz konkrete Schritte, die du erledigen musst, um die Aufgabe zu erledigen.
- Lege dir für jeden Tag einen konkreten Zeitpunkt und einen Ort fest, an dem du an deiner Aufgabe arbeiten willst (und halte dich natürlich daran).
- Nimm dir nicht mehr vor, als du tatsächlich schaffen kannst (realistische Ziele setzen). So erzielst du schnellere Fortschritte.
- Baue kleine Erinnerungshilfen ein: Post-its an Stellen, an denen du immer wieder vorbeikommst, den Wecker stellen, Arbeitsmaterialien vorbereiten etc.
- Mache am Ende, wenn du schließlich deine Aufgabe geschafft hast, eine kleine Auswertung: Was hat gut geklappt? Wo gibt es Verbesserungsbedarf?
- Belohne dich, auch für kleine Erfolge. Das fördert positive Emotionen und hilft deinem Gehirn, dich beim nächsten Mal zu motivieren.
Weitere kleinere Tipps, die dir helfen können:
- Beginne mit der Erledigung innerhalb von 72 Stunden. Danach sinkt die Chance, mit einer unliebsamen Aufgabe zu beginnen, rapide ab (sogenannte 72-Stunden-Regel)
- Plane bereits am Abend / vorangegangenen Tag vor: Wie viel Zeit brauchst du für welchen Schritt? Und in welcher Reihenfolge willst du starten? Vergib sogenannte Zeitfenster für jeden Schritt
- Achte auf deine Gedanken. Denkst du noch in “Ich muss, ich soll”? Oder denkst du negativ über deine Aufgabe? Versuche, deine Ziele positiv zu formulieren. Das sendet andere Signale an dein Gehirn. Denken musst du sowieso, warum dann nicht gleich positiv?
- To-do-Listen sind gar nicht so schlecht, wenn du nicht eine To-do-Liste durch eine andere ersetzt, dafür unendlich Zeit benötigst und so keinen Überblick mehr hast. Und wenn du etwas erledigt hast, dann setze es doch aus eine Ta-da-Liste!
- Zerlege komplizierte Aufgaben in kleine Schritte. Alles beginnt mit einem ersten Schritt, wie du ja sicherlich weißt. Ob der jetzt groß sein muss oder auch klein sein darf, das hat niemand festgelegt.
- Schmeiß deinen Perfektionismus über Bord. Meistens reichen 80% aus. Probiere es einfach aus. Was kann schon passieren?
- Nimm dir Zeit für kleine Pausen zwischendurch. So tankst du deinen Akku immer wieder auf und kannst konzentrierter an einer Sache bleiben.
- Multitasking ist ein Mythos. Untersuchungen haben gezeigt, dass du mit jedem angeblichen Multitasking zwischen den Aufgaben hin und her switcht und du jedes Mal unterbrichst. Das hat zur Folge, dass du immer wieder mit der anderen Aufgabe nach einer Unterbrechung neu anfangen musst. Das kostet Zeit und mentale Energien.
- Finde keine Ausreden, wenn du nicht an deiner Aufgabe arbeiten willst. Frage dich lieber selbst, ob der Grund auch wirklich wahr ist oder du nur eine Ausrede brauchst, um aufschieben zu können.
- Sport bzw. Bewegung helfen den Körper und den Geist fit zu halten. Damit verrennst du dich weniger in negative Gedanken.
- …. Du findest sicher noch mehr Tipps für dich, die nur zu dir passen. Ergänze sie auf dieser Liste und nimm sie zur Hand, wenn du sie brauchst.
Fazit
Prokrastination ist sicherlich für viele eine Herausforderung. Du findest Prokrastination in unterschiedlich starken Ausprägungen. Es gibt aber viele Strategien, die dir dabei helfen können. Du findest viele dieser Tipps in der Liste oben, aber Vorsicht! Auch mit einer solchen Liste kannst du herrlich prokrastinieren und dich am Abend fragen, wohin deine Zeit gegangen ist. Du hast ja nur die Tipps befolgt. Schließlich solltest du dir zwei, drei Tipps herauspicken und einfach anfangen.
Wenn Prokrastination allerdings dein Leben so beeinflusst, dass sich negative und dauerhafte gesundheitliche Folgen entwickeln, dann solltest du professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Damit du vielleicht besser einschätzen kannst, wo du stehst, kannst du einen Selbsttest der Prokrastinationsambulanz Münster machen.
P.S.
Anfang April habe ich mit diesem Artikel gestartet. Nun ist der Juni schon zu zwei Drittel vorbei. Prokrastination?
P.P.S.
Eine Bemerkung habe ich noch zum Schluss: Es gibt auch das Gegenteil zu Prokrastination, die sogenannte “Prekrastination“. Darunter versteht man den Zwang, jede Aufgabe, die kommt, so schnell wie möglich, am besten jedoch sofort zu erledigen. Oder wie es so schön heißt: “Asap” (as soon as possible)
P.P.S.
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