Energieräuber Teil 4: Perfektionismus
Ein weiterer Energieräuber ist ganz klar der Perfektionismus. Hohe Ansprüche an sich selbst zu haben, kann gut sein, es kann aber auch genau das Gegenteil bewirken. Erst dann spreche ich von einem Energieräuber. Was aber bedeutet Perfektionismus? Wann ist er ungesund?
Was ist Perfektionismus?
Möglicherweise kennst du das ja von dir selbst:
- Du kannst Dinge nicht einfach mal eben so erledigen, sondern schaust noch ein zehntes Mal über eine Aufgabe, um ja keine Fehler zu übersehen
- Du verursachst dir dadurch selbst noch mehr Zeitdruck, gerade wenn eine Aufgabe eine Deadline hat, du sie aber doch nicht unperfekt abliefern kannst
- Du fühlst dich schnell angegriffen, wenn dich jemand kritisiert, weil du denkst, du hast etwas falsch gemacht
- Du denkst selbst über kleine Fehlerchen noch tagelang nach, wie dir das passieren konnte, wo du doch so akribisch genau darauf achtest, alles möglichst perfekt zu machen
- Du kannst eine Aufgabe nie, aber wirklich nie zu 90 % als erledigt ansehen, sondern du denkst, dass du immer mindestens 110 % geben musst.
- Du bist von dir selbst enttäuscht, wenn etwas nicht 110%ig gut ist
- Du hast Angst, dass dich deine Mitmenschen weniger mögen, wenn du mal weniger gibst, als sie es von dir gewöhnt sind
- Du möchtest den Drahtseilakt zwischen Arbeit, Mutter sein, fehlerfrei arbeiten möglichst gut hinbekommen, merkst aber, dass das nicht immer geht.
- Du kennst von anderen die Aufforderung, es doch jetzt mal nicht so genau zu nehmen und es lockerer anzugehen
- Das Sprichwort “Ohne Fleiß kein Preis” trifft genau auf dich zu
Kannst du dich in dem einen oder anderen Beispiel wiederfinden? Aber lass uns doch mal genauer hinschauen, was Perfektionismus ist:
Bei Wikipedia finde ich unter anderem folgende Merkmale: “Das Streben nach Perfektion bringt den Menschen zu guten Leistungen. Ist es aber vor allem durch Angst motiviert, kann es umschwenken in den pathologischen Perfektionismus. Dieser kann das Leben hemmen und die Person an der eigenen Entfaltung hindern.” Es gibt auch diverse Erklärungsansätze und Modelle wie das 6-Facetten Modell nach Randy O. Frost et al., das 1990 entstand. Ich schreibe aber hier keine wissenschaftliche Abhandlung, deswegen versuche ich mich auf das Wesentliche zu beschränken.
Gemein ist allen Definitionen, dass sich Perfektionisten sehr hohe, um nicht zu sagen, extrem hohe Ziele setzen. Dabei wollen sie die Dinge so gut wie möglich, eben perfekt, erledigen. Das zweite Merkmal, das in fast allen Definitionen auftaucht, ist das Streben nach Fehlerlosigkeit bzw. Vollkommenheit. Hört sich das schlimm oder lebensbeeinträchtigend an? Auf den ersten Blick nicht.
Vorteile von Perfektionismus
Auf der einen Seite kann er zu großen Leistungen und Erfolgen führen, da Perfektionisten einen enormen Antrieb haben, ihr Bestes zu geben und hohe Ziele zu erreichen. Perfektionisten sind in der Regel gut organisiert. Mit jedem erreichten Ziel wird die Messlatte für das nächste Mal noch höher gesetzt, um selbst daran zu wachsen. Eine Person mit so einem gesunden Perfektionismus kann auch mit Misserfolgen umgehen und ist stolz auf das, was er bisher erreicht hat. Wählst du einen Beruf, in dem es z.B. auf Genauigkeit ankommt, oder große Ziele wie z.B. im Leistungssport, dann ist es förderlich, perfektionistisch zu sein.
Nachteile von Perfektionismus
Auf der anderen Seite kann aber zu starker Perfektionismus zu Stress, Selbstzweifeln und psychischen Belastungen führen. Warum? Diese Menschen haben häufig Angst vor Fehlern und denken, sie haben die Anforderungen und Erwartungen anderer Menschen aus ihrem Umfeld nicht erfüllt, haben also versagt. Kritik nehmen sie sehr persönlich.
Fehler zu vermeiden wird zu einem vorherrschendem Ziel. Dadurch setzen sie sich einem großen Druck aus. Untersuchungen haben gezeigt, dass solche (ungesunden) Perfektionisten häufiger unter hohem Stress leiden, häufiger depressive Züge aufweisen, mehr unter Zwangs-, Angst- und Essstörungen leiden, um nur die wichtigsten zu nennen.
Mögliche Ursachen
Die Gründe für Perfektionismus sind sehr vielfältig. Sie reichen u.a. von Erziehung über genetische Disposition, Umweltfaktoren bis zu sozialen Erwartungen. Eine Abwärtsspirale aus zu hohem Druck, Stress und möglichem Scheitern kann entstehen und zu Erkrankungen führen. Das bedeutet aber nicht, dass alle Menschen, die diese Voraussetzungen haben, zwangsläufig zu Perfektionisten werden. Vielmehr sind die Ursachen höchst individuell.
Kleines Zwischenfazit
Perfektionismus ist also ein zweischneidiges Schwert. Es kann zu hohen Leistungen führen, gleichzeitig aber auch zu Stress, Leistungsdruck und Schuldgefühlen bzw. Versagensgefühlen.
- Aber mal ganz ehrlich: Du bist damit nicht alleine. Viele Menschen kennen die oben genannten Szenarien. Auch ich kämpfe mitunter mit zu hohen Ansprüchen mir selbst gegenüber. Manchmal fühle ich mich dann richtig schlecht oder mich ärgert es, wenn ich mal etwas abgegeben habe, das aber nicht so erledigt wird, wie ich es tun würde. Da kann ich es dann doch gleich selbst machen. Ich bin so meilenweit entfernt von Gelassenheit, von Leichtigkeit .
Warum versuchen wir, möglichst perfektionistisch zu sein und bringen uns damit nur noch mehr unter Druck?
Wenn du alles tust, damit Dinge perfekt erledigt sind, dann umgehst du damit sehr wahrscheinlich die Kritik, dass du etwas nicht perfekt genug gemacht hast. Logisch, oder? Damit wiederum umgehst du Zweifel und das Gefühl, als Person nicht genug beachtet, geliebt zu werden oder einfach nicht gut genug zu sein.
Kennst du? Auch das Gefühl, gerade dadurch unter Stress zu geraten und überfordert zu sein? Und dadurch dann irgendwann krank zu werden?
Wenn du jetzt bei der einen oder anderen Aussage genickt hast, dann solltest du dir als erstes eingestehen, dass du offensichtlich perfektionistisch veranlagt bist. Du tauscht quasi Leistung gegen Anerkennung und Wertschätzung.
Wie wirst du unliebsamen Perfektionismus los?
Solltest du den Perfektionismus loswerden? Meine Antwort darauf lautet: Jein.
Denke doch erst mal nach, warum du so handelst. Vielleicht wurdest du immer wieder belohnt, wenn du gute Noten gebracht hast. Dadurch hast du gelernt, dass es wichtig ist, Leistung zu bringen. Oder aber deine Eltern haben es dir vorgelebt und du hast das so übernommen. Ist das aber bereits negativ?
Nein, denn es kommt darauf an, was du gelernt hast, wenn du mal einen Fehler gemacht hast. Wurde dir von deinem Elternhaus vermittelt, dass es okay ist, Fehler zu machen, du als Person immer noch liebenswert bist? Dass du trotz Fehler unterstützt wirst bzw. die Fehler es sind, die dir ein Lernen und Weiterkommen ermöglichen? Wenn du das nie erlebt hast, dann ist es kein Wunder, dass deine Ansprüch an dich selbst ins Unermessliche wachsen und unerfüllbar werden. Denn wenn du dann einen Fehler machst……
Ich weiß, du kannst keinen Zauberstab schwenken und dein Perfektionismus verlässt dich wie von Geisterhand. Das wird nicht funktionieren und wäre ja auch zu einfach. Denn das, was du heute bist, ist ein Ergebnis deiner Vergangenheit und deines Weges, den du – und kein:e andere:r – gegangen ist.
Es wäre aber auch zu einfach zu sagen, du müsstest nur ein wenig genauer hinschauen und die Situationen identifizieren, die dich zum Perfektionismus veranlassen. Klar, das ist ein erster Schritt, aber es sind doch immer wieder Inputs nötig, die dich zum Nachdenken veranlassen. Zum Beispiel:
- Welche Konsequenzen fürchtest du, wenn du nicht perfekt bist?
- Sind diese Befürchtungen real oder existieren sie in deinem Kopf?
- Woran machst du das fest?
- Kannst du dich an Situationen in deinem Leben erinnern, die dich in diese Richtung geprägt haben?
- Oder vielleicht genau in die andere Richtung?
- Bist du in allen Bereichen deines Lebens perfektionistisch? Oder gibt es Bereiche, in denen du loslassen kannst bzw. dich von der Vorstellung, alles perfekt machen zu müssen, verabschieden kannst?
Fragen über Fragen, die wichtig sind, um entscheiden zu können, was du gegen ungesunden Perfektionismus, wenn er denn vorliegt, tun möchtest.
12 + Tipps gegen ungesunden Perfektionismus
- Es kann sein, dass die Tipps, die ich hier gebe, überhaupt nicht zu dir oder deiner Lebenssituation passen. Dennoch: Probiere sie aus, du wirst schnell merken, ob sie für dich hilfreich sind. Oder finde deinen eigenen Weg.
- Mache dir, wie eben beschrieben, die Vor- und Nachteile deines Perfektionismus klar. Es kann auch ein Zeichen von Stärke sein, sich mit einem Problem intensiv auseinanderzusetzen, nicht loszulassen, bis ein Ergebnis da ist. Wenn dann ein Kollege daherkommt und dir sagt, du solltest nicht so “pingelig” sein, dann wirst du dich dagegen auflehnen, weil damit genau deine Stärke in Frage gestellt wird. So einfach funktioniert das halt nicht.
- Erkenne deine Grenzen an. So kannst du Überlastung vermeiden bzw. verringern. Das beinhaltet natürlich auch, dass du dich damit auseinandersetzt, dass Grenzen anerkennen kein Versagen ist.
- Mache ab und zu etwas anders / Gegenteiliges. So kannst du z.B. deine Standards herunterschrauben und nur 95 % als erledigt ansehen. Oder mal langsamer machen. Wozu die Eile? Wichtig ist, dass du nicht gleich die Flinte ins Korn wirfst, wenn du denkst, das klappt eh nicht. Gleich noch ein zweites Mal versuchen.
- Wenn du die Arbeit im Büro oder wo auch immer nicht schaffst: Nimm sie nicht mit nach Hause (dazu neigen Perfektionisten). Diese Art von Selbstausbeutung tut dir garantiert nicht gut, weil du damit immer wieder deine grenzen überschreitest und den Weg in die Überlastung gut vorbereitest. Deine Familie dankt es dir sicher auch, wenn deine Arbeit im Büro bleibt.
- Lenke deinen Fokus weg von ständigem Leistungsdruck hin zu Genuss. Du bist nicht faul, nur weil eine Aufgabe mal länger dauert, als du gedacht hast. Genieße deinen wohlverdienten Feierabend. Morgen ist auch noch ein Tag.
- Wie würdest du mit einer guten Freundin in derselben Situation sprechen in der du dich gerade befindest? Was würdest du ihr raten? Sprich doch mal so mit dir selbst. In den meisten Fällen ist das ein echter Unterschied und tut dir gut.
- Hol dir Hilfe und Unterstützung, die dir beisteht und dir versichert, dass nicht jeder vermeintlicher Fehler auch ein solcher ist und dass Fehler auch ohne dein Zutun oder “Versagen” passieren können.
- Mache dir klar, dass du nicht alles alleine machen musst. Delegiere Aufgaben und hab Vertrauen darin, dass andere sie ebenfalls gut erledigen können.
- Verabschiede dich vom permanenten Leistungsdruck. Niemand kann 24/7 voll konzentriert sein und fehlerfrei arbeiten, warum dann du? Auch dein Auto kann nicht durchgehend mit Höchstgeschwindigkeit fahren, es benötigt zwischendurch auch mal eine Pause.
- Apropos Pause: Mein Lieblingsthema. Nach jeder intensiven Anstrengung muss eine Pause kommen, das ist völlig normal. Die kannst du auch ohne schlechtes Gewissen machen. Pausen helfen dir, gesund zu bleiben!
- Die Meinung der anderen ignorieren. Du solltest dein eigenes Leben leben, wie es zu dir passt, frei vom Druck, anderen gefallen zu müssen, oder der Vorstellung, mit Fehlern nicht mehr geliebt zu werden. Löse dich davon, die Erwartungen der anderen (vielleicht die der Eltern oder des Partners?) erfüllen zu müssen. Nur du entscheidest über dein Leben, niemand sonst!
- Nimm dir Zeit für dich und deine eigene Selbstfürsorge, auch wenn eine Aufgabe dadurch später oder anders erledigt wird. Die kleinen Inseln im Alltag benötigst du, um gut durch den Tag zu kommen!
- Und schließlich: versuche deine Ansprüche an dich selbst herunterzuschrauben. Affirmationen können dir dabei helfen.
- Ein letzter Tipp: Mache einen Pfusch- oder Schludertag. Was ich damit meine? Lege ab und zu einen Tag ein, an dem du deine gewohnten Dinge schleifen lässt. Also einfach mal die Zahnpastatube offen liegen lassen, einen anderen Weg zur Arbeit nehmen, absichtlich etwas später kommen, die Wäsche nicht sofort wegräumen, was auch immer. Sieh es als eine Art “Desensibilisierung” zum Perfektionismus an. Steigere dich allmählich. Ich weiß, das ist anfänglich kaum auszuhalten, aber vielleicht gewinnst du irgendwann Freude daran?
Fazit
Perfektionismus kann dich zu hoher Leistung anspornen, kann aber auch Stress und Überforderung verursachen. Wenn du also wieder einmal merkst, dass sich dein Perfektionismus meldet, wenn du vor einer Aufgabe stehst, dann frage dich doch, warum. Weil du Angst vor Ablehnung hast, oder weil es deine Stärke ist? Beobachte dich und nimm wahr, was gerade vorherrscht. Dann handle entsprechend. Wenn es die Angst vor Ablehnung ist, dann übe, vielleicht eine Kleinigkeit (die wahrscheinlich eh niemand bemerken würde) einfach auszulassen. Beim nächsten Mal ein wenig mehr. Sieh es als eine Art kleine Challenge im Alltag, nämlich das Auslassen aushalten zu können. Dieser Weg ist nicht von heute auf morgen zu bewältigen, du benötigst Zeit.
Du wirst sehen, wenn du die Tipps umsetzt, die für dich passen und du dich allmählich steigerst, hast du auf einmal mehr Zeit übrig. Anfänglich ein paar Minuten, dann wird es immer mehr werden. Die Zeit kannst du für dich nutzen. Für kleine Pausen, für dich selbst. So nimmst du Druck heraus und irgendwann, nicht sofort, wird die Leichtigkeit zurückkehren. Denk daran: Du bist gut genug, so wie du bist!