Persönliches

Wie ich wurde, was ich bin – meine Studienzeit (1986 – 1990)

Meine Studienzeit ist eine von mehreren Stationen auf dem Weg zu meinem heutigen beruflichen Weg, die ich hier etwas näher beleuchten will. Den kompletten Artikel “Wie ich wurde, was ich bin” findest Du hier.

Mein Entschluss Sozialpädagogin / Sozialarbeiterin zu werden, stand nach dem intensiven FSJ fest. Auch wenn so manche:r in meinem Umfeld der Meinung war, ich würde mein Abitur mit einem Studium auf einer Fachhochschule (und nicht Universität) wegschmeißen, war mir das relativ egal. Hätte es mein Wunschstudium nur an einer Universität gegeben, dann wäre ich halt dort hin gegangen. Welche intensive Zeit mir bevorstand und wieviel an Persönlichkeitsbildung darin steckte, das wusste ich zu Beginn nicht oder hätte ich mir vorstellen können.

Studienort

Da ich ja zu den sogenannten “geburtenstarken Jahrgängen” zähle, waren Studienplätze Mangelware. Vor allem, wenn man, wie ich, an eine bestimmte Fachhochschule wollte. Nachdem ich ja zum FSJ schon vom heimatlichen Dorf nahe Nürnberg in die Großstadt München zum späteren Göttergatten gezogen bin, wollte ich natürlich dort bleiben. Den besten Ruf hatte die Katholische Stiftungsfachhochschule. Nahezu jede:r Student:in bekam nach erfolgreichem Abschluss einen Arbeitsplatz. Deswegen waren die Studienplätze begehrt und zusätzlich mit einem Numerus clausus versehen. Leider reichte mein Abitur dafür nicht, aber ich warf alles an sozialem und kirchlichem Engagement in die Waagschale. Es kam letztendlich eine Menge zusammen: FSJ, Sonntagsdienste im Krankenhaus, Spielbusaktionen in den Sommerferien (dreimal hintereinander), Arbeit an der Mühle (siehe Artikel), Vorbereitung und Durchführung von Jugendgottesdiensten etc. Da ich mir aber nicht sicher war, bewarb ich mich zur Sicherheit an der staatlichen FH in München, in Nürnberg, und sogar für ein Soziologiestudium und / oder Ökotrophologie.

Von allen bekam ich nach und nach Zusagen, nur nicht von meiner Nummer 1. Nach einer kleinen Zitterpartie kam sie in den Sommerferien. Endlich! 6 Wochen bevor das Studium losgehen sollte stand fest, dass ich meinen heißersehnten Studienplatz an meiner gewünschten FH bekam. Das hieß: Ich konnte in München bleiben, ich konnte mit dem späteren Göttergatten zusammenwohnen bleiben und ich musste nicht wieder zurück in mein altes Kinderzimmer ziehen. Es bedeutete aber auch, dass ich mir ziemlich schnell einen Studentenjob suchen musste, denn das BAföG reichte bei weitem nicht für das damals schon teure Pflaster München.

Das Studium selbst

Voller Vorfreude und Elan startete ich ins Studium. Wie ernüchternd war meine erste Vorlesung im Fach Recht. Ich dachte, durch meine RechtAG am Gymnasium eine solide Basis zu haben. Das, was ich dort in einem halben Jahr gelernt habe, wurde kurzerhand in einer Vorlesungen durchgezogen. Du denkst, mit dem Abitur hast Du eine der härtesten Prüfungen geschafft und merkst schließlich, das war Pillepalle.

Vorlesungszeiten

Für mich war es hilfreich, dass die Vorlesungszeiten und Vorlesungen selbst in einer Art Stundenplan festgehalten waren. Viel Gestaltungsmöglichkeiten hatte ich nicht, was mich anfangs nicht störte. Und ich merkte – willst Du das schnell durchziehen, dann musst Du sehr konzentriert dran bleiben. Dabei half mir der Stundenplan sehr.

Studieninhalte

Ich merkte schnell, dass mir die Studieninhalte überwiegend leicht von der Hand gingen. Ich mochte es total gerne, mich darin zu vertiefen. Ob Soziologie, Pädagogik, Philosophie, Politik, Psychologie, Recht, Medizin, die Wissenschaft der Sozialarbeit / Sozialpädagogik sowie Handlungsmethodik, egal. Ich sog fast alles wie ein Schwamm auf. Okay, Medizin war nicht so ganz meines – ich wurde mit dem Dozenten nicht so warm. Dafür schätzte ich den Vorteil sehr, wenn wir uns in Lerngruppen aufteilten: Jede:r von uns war einmal mit dem Besuch der Medizinvorlesung dran, schrieb für alle mit und teilte das. So musste ich nur ein Minimum an Zeit aufbringen und mir den Dozenten nicht jede Woche antun.

Drei wesentliche Punkte aus der Studienzeit waren für meine spätere berufliche Laufbahn prägend:

  1. “Die Pädagogik der Unterdrückten” und “Kultur des Schweigens” von Paulo Freire, einem brasilianischen Pädagogen. Er vereinte in seinen Thesen meine Auseinandersetzung mit Kant, Hegel, Marx, Sartre, Fromm und noch einigen anderen. Mit meinen Mitstudierenden verbrachten wir viele Diskussionsstunden. Als zwei aus unserem Kreis Ernst machten und für ein Semester nach Nicaragua gingen, um diese Pädagogik umzusetzen, zuckte ich. Genau das war es, Umsetzung vor Ort! Wie gern wäre ich mitgegangen. Dafür hätte ich aber einiges hier aufgeben müssen. Letztendlich blieb ich in München und beschloss, mein Studium zügig durchzuziehen. Damit, so meine Auffassung, könnte ich wohl noch mehr bewirken.
  2. Auseinandersetzung mit Emanzipation und Feminismus: Alice Schwarzer, Christa Wolf, Simone de Beauvoir, Anna Seghers, Ilse Aichinger, Alice Walker, Alice Miller waren bevorzugte Frauen, mit denen ich mich gemeinsam mit meinen Mitstudent:innen auseinandersetzte. Ihre Schriften waren für mich nicht immer leicht zu verdauen, trotzdem war das die Basis für meine spätere Haltung.
  3. Auseinandersetzung mit ökologischen, politischen und gesellschaftskritischen Themen. In München gab es eine Filiale des Verlages 2001. Damit hatte ich Zugang zu anderen Schriften, als die, die es im üblichen Buchhandel gab. Themen gab es in den 80ern ja genug: Joschka Fischer als erster grüner hessischer Umweltminister, Tschernobyl, Ronald Reagan in Berlin und der Mauerfall, Gesundheitsreform, Tiananmen-Protest, Vermummungsverbot, RAF-Attentate, Volkszählung, um nur einige brisante Themen zu nennen. Teilnahme an Demonstrationen blieben nicht aus. Sogar unsere FH beteiligte sich mit Aktionstagen.

Praktika während des Studiums

Bereits im 3. und 4. Semester mussten wir studienbegleitende Praktika absolvieren. Gemeinsam mit einer Mitstudentin starteten wir Gruppenarbeit im Strafvollzug für männliche Jugendliche und junge Erwachsene. Nicht nur, dass die “Schliesser” uns regelmäßig fragten, ob wir denn nichts besseres zu tun hätten, als hier das Gruppenangebot zu machen. Wir waren vielmehr komplett auf uns alleine gestellt mit unserem Angebot. Letztendlich haben wir es mit Bravour gemeistert – ein Meilenstein mehr im Erfahrungskatalog. Challenge accepted!

In Bayern gab es damals nicht nur das “Schrägstrichstudium” (Sozialpädagogik / Sozialarbeit), sondern auch das in die Studienzeit integrierte Jahrespraktikum. Das bedeutete, dass wir im 5. und 6. Semester ein Jahr komplett außerhalb unserer FH an einer Praktikumsstelle absolvieren sollten, dafür aber auch nichts bezahlt bekamen, denn es war ja eben integriert und kein Anerkennungsjahr.

Bild: Michael Schwarzenberger auf Pixabay

Mittlerweile hatte ich mit dem Strafrecht bereits Blut geleckt und wollte unbedingt in der Bewährungshilfe arbeiten. Ich hatte Glück: nicht nur, dass ich einen wunderbaren Anleiter hatte, der mich relativ schnell ins kalte Wasser schmiss und mir, soweit es ging, freie Hand gewährte. Ich durfte mir meine zu bearbeitenden Fälle weitestgehend selbst aussuchen und unter seiner Anleitung “bearbeiten”. Als ich einen Vergewaltiger aus der Nähe meines Heimatortes übernehmen sollte, habe ich dann doch dankend abgelehnt. Zu nah die Verbindung, zu sensibel das Thema. Überhaupt habe ich in diesem Jahr sehr schnell gelernt, was professionelle Abgrenzung bedeutet, habe die Vorteile einer Supervision kennen- und wertschätzen gelernt und bin in verschiedene Lebensläufe eingetaucht. Außerdem habe ich ziemlich viele beteiligte Institutionen von innen gesehen. Am beeindruckendsten fand ich die forensische Psychiatrie in München- Haar (geschlossene Abteilung). Fast fühlte ich mich da in “Einer flog übers Kuckucksnest” zurückversetzt. Mein Jahr in der Bewährungshilfe weckte in mir den Wunsch, nach dem Studium in der Richtung weiterarbeiten zu wollen und natürlich meinen Schwerpunkt im Studium entsprechend zu legen.

Schwerpunkt Resozialisierung

Im 7. und 8. Semester mussten wir schließlich unseren Schwerpunkt wählen. Der fiel – wie bereits erwähnt – auf Resozialisierung. Im Studium an sich gab es nur ganz wenig studierende Männer. Die meisten fanden sich zu meinem Erstaunen in meinem Schwerpunkt wieder. Wir waren eine kleine Gruppe und das Arbeiten und der Austausch mit meinen Mitstudierenden machte mir sehr viel Spaß. Auch heute noch treffen wir uns, soweit möglich, einmal im Jahr.

Mein Student:innenleben

Mein Diplomzeugnis

Wie hieß es oft? Das Studentenleben wäre so schön, chillig und easy? Davon merkte ich nicht viel. Von Anfang an hatte ich mindestens einen festen Studentenjob als Putzkraft während des Studiums. In den Semesterferien arbeitete ich Vollzeit, meist im Schichtdienst (gibt ja Zulage), um ein Polster für das neue Semester zu haben, aber auch, um immer wieder reisen zu können. Denn da hatte sie mich schon gepackt, die Reiselust.

Immer wenn es mir finanziell möglich war, packten wir unseren Rucksack (oder das Auto und Zelt) und erkundeten die Welt mit minimalem Budget. So kamen wir 9 Wochen nach Indonesien (unsere allererste Flugreise), fuhren mit dem Bus von München aus in die Türkei und von dort mit den öffentlichen Verkehrsmitteln weiter fast bis zur damaligen russischen Grenze, erkundeten die Toskana und Umbrien usw. Damals schon erkannte ich, welchen Mehrwert mir Reisen bietet und welche Sehnsucht es in mir erweckte. Jede Reise kostete mich ein kleines Stückchen meines Herzens, gab mir aber so unendlich viel wieder. Mehr dazu kannst Du in meinem Artikel “Warum ich Reisen liebe” nachlesen.

Unsere Wohnsituation war akzeptabel, aber nicht sonderlich komfortabel. Wir wohnten in einem über 400 Jahre altem Wohnhaus. Außen renoviert, innen eher nicht. Unser “Wohnung” war der Teil einer “Arbeits”-Wohnung, die eigentlich zu einer darunter liegenden Kneipe gehörte. Es gab weder eine eigene Toilette (die lag im Treppenhaus und mussten wir mit vier weiteren Parteien teilen) noch eine eigene Dusche für uns. Gut, dass wir beide handwerklich einigermaßen begabt waren. So nannten wir schließlich eine selbst eingebaute Dusche und eine Chemietoilette unser eigen. Die Lage direkt am Viktualienmarkt war dagegen sehr praktisch und hatte hohen Freizeitwert.

Da ich mein Studium möglichst schnell durchziehen wollte, um endlich Geld verdienen zu können, gab es nicht viel Zeit für Kneipenbesuche oder Warteschleifen. Schließlich beendete ich mein Studium unter der Förderhöchstdauer, dazu noch als eine der 30% Besten in Bayern. Das half mir zum einen bei der Arbeitsplatzsuche, aber auch bei der Rückzahlung meines BAFöG´s.

Hochzeit im Studium

Kirchliche Hochzeit .

Der Göttergatte war schon etwas früher als ich fertig mit dem Studium. Für ihn ging es ins Referendariat, bei mir standen die Abschlussprüfungen an. Wir zuckten: eigentlich könnten wir doch heiraten. Dann würde der Göttergatte etwas mehr verdienen, ich müsste meine Zeugnisse später nicht umschreiben lassen und zusammen bleiben wollten wir ohnehin. Gesagt, getan. Im letzten Semester heirateten wir schließlich im ganz kleinen Kreis standesamtlich. Nur unsere Trauzeugen und wir im wunderschönen Standesamt am englischen Garten. Eine große Feier verbanden wir einige Zeit später mit der kirchlichen Trauung.

Meine Learnings aus der Studienzeit

  • Auseinandersetzung und Diskussion zu verschiedenen teils unbequemen Themen, die meine Einstellung sehr geprägt haben und von denen ich heute noch profitiere.
  • Ausprobieren von verschiedenen und effektiven Lerntechniken, die ich auch heute noch nutze
  • Effektives und sinnerfassendes Lesen
  • Selbstreflexion, Supervision als wesentlicher professioneller Bestandteil
  • Reisen tragen wesentlich zum Verständnis für andere Menschen und Kulturen bei, erden mich, füllen meine Akkus auf.
  • Herausforderungen sind dazu da, um gemeistert zu werden
  • Wenn ich das schaffe, schaffe ich anderes auch
  • Selbstorganisation
  • Vielseitigkeit von Sozialpädagogik / Sozialarbeit
  • Freundschaften fürs Leben gibt es
  • Ich wachse mit meinen Herausforderungen
  • Sprung ins Ungewisse wagen bietet unerwartete Erfahrungen
  • das Studium legte einen wesentlichen Grundstein für meine weitere Persönlichkeitsentwicklung und berufliche Entfaltung
  • das Studium als solches ist zwar sehr vielfältig und bietet unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten, meinem Eindruck nach war es in der allgemeinen Ansicht doch eine Art “Mangelstudium”. Für diesen Einsatzbereich wurde eine bestimmte Fortbildung erwartet, für jenen Bereich eine andere. Weiter Lernen war also vorprogrammiert
  • ….

Fazit

Meine Studienzeit war eine der intensivsten Zeiten für meine berufliche Laufbahn mit einer derart großen Persönlichkeitsentwicklung. Voll gepackt mit diversen Auseinandersetzungen, Erkennen von Grenzen, Werten, Erarbeiten eines professionellen Selbstverständnisses und noch dergleichen mehr. Ich möchte sie nicht missen und würde sie wahrscheinlich wieder genauso durchziehen.

Ein Kommentar

  • Shivani Vogt

    Danke Anette, dass du mich in deine Studienzeit zurück entführt hast. In der Tat sind bei mir dabei auch eigene Erinnerungen wach geworden. Du schreibst sehr offen und herzlich und ich habe den Eindruck, dass ich ganz mit dir in diese Zeit abtauchen konnte. Super, diese Zeitreise.

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